Jesus Nägel
(Auflage: 333)
Art.Nr.000/333
»Jesusnägel!«, warf Baumann knapp in die Runde. »Was?«, schien Heda Mayer sich verhört zu haben. Harpe Bostel ließ nur einen zischenden Laut vernehmen. »Hab’ ich schon mal gehört …« Das war Hegli. Ich schmunzelte. Die Peters empörte sich: »Na hör’n Sie mal!« Kersting blickte unentschlossen von einem zum anderen. »Meine Herrschaften«, mahnte Pfarrer Hansen, »so kommen wir aber nun wirklich nicht weiter!«
»Jesusnägel!«, beharrte Baumann.
Angesichts der ratlosen, teils ungehaltenen Blicke ließ er sich wenigstens ansatzweise zu einer Erklärung herbei: »Sie wollten doch wissen, ob es etwas Neues gäbe, Herr Pfarrer – das sind Jesusnägel!«
»Also …«, protestierte Heda Mayer vom Kopfende des Vorstandstisches aus, ansonsten obsiegte noch für eine Weile Ratlosigkeit. Nur Pfarrer Hansen ahnte einen Bedeutungsfaden: »Was wollen Sie damit sagen, Herr Baumann?«
»Die heißen so. Sagt mein Schwiegervater, Friedels Vater, ist ja Tischler. Sind lange Nägel, für Dachbalken«, vertraute er uns das Wissen seines Schwiegervaters an und hielt es uns zwischen beiden Zeigefingern hin: »Müssen so lang sein. Hält ja sonst nicht!«
»Na …«, verbat sich die Peters erneut, »… das ist doch!«
»Jesusnägel!«
»Und die heißen schon immer so?«, fragte Heda Mayer skeptisch, blieb aber, »Ganz offiziell?«, bei ihrer gewohnt versöhnlichen Art: »Sind Sie sicher?«
»Jesusnägel – ich kann nur sagen, was mein Schwiegervater als Fachmann sagt« – was sonst nicht seine Art ist.
Dem Pfarrer, der langsam nickte, bestätigte das wohl endgültig, daß wir nicht »irgendeinen Dumme-Jungen-Streich« vor uns hatten, wie unser früherer Küster Hegli seit drei Wochen nicht müde werden wollte, die Sache zu interpretieren, auf keinen Fall. Ich mußte grinsen: Jesusnägel, das hatte ich nicht gewußt – begegnete aber dem Blick vom Pfarrer und riß mich zusammen.
»Jesusnägel also …« Auf Pfarrer Hansen hatte die Bezeichnung offenbar eine beruhigende Wirkung. Allemal mußte es ihm besser gefallen als die Entdeckungen vom Anfang des Monats, die uns seither schon zum vierten Mal im Kirchenvorstand zusammen gebracht hatten, in dem wir sonst nur mit Ach und Krach, ‘Tschuldigung!, einmal im Monat miteinander beraten. Ansonsten weiter diese Ratlosigkeit, die unseren Kreis in den zurückliegenden Wochen mit den wildesten Kontroversen aufgewühlt hat. Selbstverständlich hat jeder von uns seine Meinungen, für die einer steht, haben wir Ansichten und Positionen, für die wir eintreten, manchmal durchaus auch streiten – aber die teils wüsten Kontroversen der zurückliegenden Wochen haben wir nicht gekannt. Allein die notorischen Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren beiden Vorstandsfrauen waren gleich vor der Wand unserer Kirchenapsis in offene Feindseligkeit umgeschlagen und wollen seither kein Ende nehmen.
»Hätte er wenigstens einen ordentlichen Jesus zwischen die Nägel gebracht«, hatte Heda Mayer kopfschüttelnd gesagt, »dann hätte man immerhin was von der Installation.« Der Pfarrer hatte das eher übergangen, aber die junge Peters hörte sofort eine Zweideutigkeit heraus, einen ordentlichen Jesus, man sah ihr förmlich ihre Vorstellungen an, einen ordentlichen Mann, so ein aufblitzendes Zucken im Mundwinkel – das sie jedoch sofort zügeln mußte und ihre Phantasie durch Empörung erstickte. Ihre Stirn ging in Falten über, die Mundwinkel runter, so platzte sie gegen Heda Mayer und zugleich gegen sich selbst heraus: »Das ist Blasphemie! Wir brauchen hier keinen Körper!« Und war beinahe ordinär in dieser Betonung. »Sehr wohl brauchen wir den!«, schnappte Heda Mayer und hielt zurück, was ihr vielsagender Blick verriet: »Jede anständige Gemeinde hat das Bild unseres leidenden Herrn.«
In der Gemeinde gibt es, beklagt ist es seit Jahrzehnten und etlichen Pastorengenerationen, keinen Jesus. Wir haben keine plastische Darstellung unseres Herrn, in der Tat.
…
Ein abgesandter Fotograph hatte die fast leere Wand unserer Kirche betrachtet, sich dann offenbar geweigert, seine Linse gegen etwas derart Unsichtbares, bloß Symbolisches zu erheben. »Das Eigentliche hätten Sie sowieso nicht knipsen können, hab‘ ich ihn beruhigt«, hatte uns Hegli stolz erzählt. Der Fotojournalist, über das »knipsen« gewiß so wenig erfreut wie über den Zweifel an seinen Fähigkeiten zu investigativem Fotojournalismus, habe dagestanden, die Hand mit der ins Leere schauenden Kamera in die Hüfte gestemmt, »wie ein Kriegsreporter – bei uns, an der Kirche, in Paschberg … Ich meine, die Jesusfigur fehlte ja doch sowieso zwischen den Nägeln. – Sie hätten ohnehin nur die Leere dazwischen festhalten können, hab ich ihm gesagt. Sie sehen’s ja!« Das war schlagend. Hatte auch der Fotoreporter zugestehen müssen. Und das Feld geräumt. Das Foto, das er dennoch von unseren drei Nägeln und ihren Schuhen und Handschuhen geschossen hatte, bevor er in seinem klappernden Astra davonfuhr, wie Hegli mokant ausführte, weil er politisch anderweitig ausgerichtete Blätter mehr schätzt, mochte ihm eher Beleg für die Sinnlosigkeit seiner Anreise gewesen sein denn Dokumentation des Eigentlichen. – Im Blatt wurde es gleichwohl abgedruckt und wirkte, weil er es eben nur beleghaft aus der hohlen Hand geschossen hatte, wie eines jener Handyfotos, wie die BILD-Zeitung sie von zufällig an Katastrophenorten anwesenden touristischen Augenzeugen ergattert. »Wirkt aber doch authentisch!«, kommentierte Kersting nachher, der unser Gemeindeblättchen in dem Steuerbüro ausdruckt, mit dessen Chef er jedesmal wortreich für die Anliegen – »für die sehr berechtigen Anliegen von Kirche und Gemeinde!« rechten müsse, wie er uns mit jedem Gemeinderundbrief neu dartut, und er hatte auch gleich wieder was von »PR für die Gemeinde« nahelegen wollen, was Harpe Bostel das Stichwort gab, »daß wir den Gewerbeverein da nicht weiterhin alleine für eine attraktivere Außenwahrnehmung unserer Gemeinde kämpfen lassen dürfen«.
»Gewiß, lieber Herr Kersting …«, und: »Später, lieber Herr Bostel!«, hatte Hansen beschieden. Und Kersting war in sich zusammen gesackt, Harpe Bostel mit hochgezogener Augenbraue verstummt.
Kauend taxierte Baumann, wie ihm die verbliebenen Zweidrittel seines Imbisses schmecken würden. Wir kamen erneut nicht voran. Auch wenn der Pfarrer endlich einen Ansatz für eine Predigt über die offensichtliche Auferstehung Jesu planen mochte – ich merkte, daß meine Reflektionen zu dieser Sache und ihren eventuellen Hintergründen nicht wirklich hilfreich wären. Daß sie unseren Kirchenvorstand tatsächlich ablenkten. So war es schon gewesen, als ich in der ersten Sitzung nach dem Morgen vor der Apsiswand ein wenig Klarheit in den Vorfall hatte bringen wollen:
»Ich für meinen Teil: Ich muß mir sowas immer vorstellen, möglichst genau vorstellen.« Man versteht letztlich nur das, was man selbst machen kann. Da sprach mein Großvater aus mir, der Betriebsleiter in einer Kartonagenfabrik, und er hatte recht. Wenn der nicht wußte, wie man eine Seifenschachtel zusammenfalten und ihre Einlagen stecken mußte, damit nachher die Seifen nicht darin herumschlackerten, dann konnte ihm sein Chef, Kartonagenfabrikant Kleiber, noch so lange von den Kundenwünschen daherreden – »nix wäre es geworden mit den schönen Seifen in ihren bunten Schachteln oder den Pralinen im Geschenkkästchen«, folgerte Großvater. »Vor-stellen, mein Junge«, hatte der alte Praktiker ungewohnt ingenieurhaft gesprochen und weiterbuchstabiert: »Dann erst her-stellen!« – Ich hatte mir vorgestellt, wie man nachts eine Leiter beischafft, also einen Lieferwagen dabei haben mußte. Das Klappern von so einem Ding sollte nicht das Problem sein: gegenüber der Apsis der kleine Park, die ersten Wohnhäuser sind mindestens 100 Meter entfernt, da hört keiner viel. Aber wenn man sich alles konkret ausmalte, dann mußte das ein ziemliches Monster sein, diese Leiter: »Die Füße von Ihm, ‘Tschuldigung!, der untere Nagel war noch nicht so sehr das Problem. Auch wenn der schon gut vier Meter überm Boden steckte, so könnte einer da noch gerade so hinlangen, selbst mit einer schlichten Haushaltsleiter. Aber oben, die Arme, die zwei Nägel, welche den Kreuzesbalken symbolisieren sollen, die sind dann in fast sechs Metern Höhe anzubringen. Du lieber Himmel«, ‘Tschuldigung!, so einfach geht das nicht. Da braucht es was Solides, eine veritable Ausziehleiter, »Handwerkergerät ist das, was für Profis, meinen Sie nicht auch, Hegli?« Der hatte schon fachmännisch Luft holen wollen, aber Kunst braucht Konkretion: »Schon das übrigens eine Mordsschlepperei. Und überhaupt: alles ein Organisationsproblem. Denn wie könnten diese langen, knapp Kleinerfinger dicken Nägel in die Wand gebracht werden?« Hegli hatte die angesaugte Luft fahren lassen und begann sich etwas vorzustellen. »Völlig naive Vorstellung«, war ich fortgefahren, »die einfach ins Mauerwerk zu schlagen. Was entweder die Nägel hätte krummhauen lassen. Oder alles wäre heillos zerbröselt. Putz wäre abgesprungen, Mauerstücke weggeplatzt, eine einzige Schweinerei, Gepfusche.« Hegli hatte gewissenhaft zu nicken begonnen. Das hatte sauber sein sollen in diesen Punkten. Damit die dreckigen, abgearbeiteten Handschuhe und die zerschlissenen Schuhe an ihren Nägeln klar hervorkämen, ihre Bühne hätten, eine unverletzte Fläche, einen Untergrund ohne Spuren und Makel – und nur eben dadurch erkennbar ein Kreuz, auch ohne Ihn. – Jetzt lieber nicht, sagte ich mir, nach den streitlustigen Blicken von Heda Mayer und der Peters sehen: »Also ordentlich vorgebohrt diese Löcher für seine drei Nägel.« Nun ja – ich schaute nun doch in die erstaunlich stille Runde, Hegli nickte wirklich –, und das alles nachts, am besten in der Stille nach zwei Uhr früh, hatte ich mir vorgestellt, wenn keiner mehr auf der Straße war, die letzten Nachteulen im Bett und die notorisch Schlaflosen unter unseren Alten und Pubertierenden noch nicht wieder aufgewacht. »Im Lieferwagen also ein Generator, ein kräftiger Bohrhammer – langes Kabel dafür nicht vergessen. Vorgefahren, Leiter raus, angelehnt, Kabeltrommel raus und abgerollt. Dann den Generator an«, so war ich das alles noch einmal durchgegangen, »besser im Auto lassen das Ding, wegen des Knatterns, Bohrmaschine geschnappt, Stecker eingesteckt – und jetzt?« So ging das alles nicht. Auch wenn mein Vorstand das noch nicht begriffen hatte: einfach drauflosbohren, irgendwo drei Löcher rein in die Wand – völliger Unfug! Man mußte nicht groß einen Vitruv’schen Menschen an die Wand malen, um zu verstehen, daß man hier anders zu Werke zu ziehen hatte. Die Proportion hatte unbedingt stimmen müssen. Eventuell mußte sie sogar, war mir schon damals auf dem Bürgersteig nahe vor der Apsiswand durch den Kopf gegangen, perspektivisch gestreckt werden: nämlich von unten herauf in die Länge gezogen, damit von unten, von nahe an der Installation das Kreuz nicht verkürzt würde, also: »Die beiden Handgelenksnägel mußten wirklich auf gleicher Höhe sitzen, verstehen Sie, sonst würde das alles krumm und schepp, und gar nicht zu erkennen sein.«
»Sie hören sich ja fast so an«, faßte Baumann zusammen und tat ironisch, »als wären Sie selbst dabei gewesen!« Meine Güte. Ich sollte mich wirklich zurückhalten.
Der Pfarrer hatte mich eindringlich angesehen. Die Peters hatte den Kopf beunruhigend nachdenklich schief gelegt. Anstatt aber eine ihrer flotten Überzeugungen abzuschießen, hatte sie tatsächlich versucht – da war viel gewonnen –, sich ein Urteil zu bilden. Heda Mayer, konnte das sein?, blätterte im letzten Gemeindebrief. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich so weit in diese Debatte einzulassen! »Darum geht es hier nicht!«, hatte ich endlich gekontert, brauchte aber zu lange, um auszupacken, worum es hier ging: »Ja«, grätschte Harpe Bostel hinein: »Worum geht es denn hier eigentlich?«
»Die Leiter …«
»Sie haben da völlig recht«, war Hegli endlich nachgekommen in seinem Handwerkerverstand, »das muß wirklich was Solides gewesen sein!«, bestätigte er mir und der Runde. Um so unzufriedener verzog er sein Gesicht, als ich auch ihn überging:
»Darum geht es ebensowenig!«
Unterschiedlich langsam dämmerte es um unseren Vorstandstisch herum, wie lächerlich das wäre: »Da mitten in der Nacht, wo es schnell gehen mußte und jede Sekunde jemand vorbeikommen konnte, einfach irgendwie einen der drei Nägel vorzubohren, dann beschaulich zurücktreten, Maß nehmen für den zweiten Nagel, stellen Sie sich das doch nur genau vor«, also herunter von der Leiter nach dem ersten Bohrloch und Abstand genommen wie ein Maler von seiner Staffelei und Leinwand, den fetten Nagel in der Hand wie einen Pinselstiel, darüber hinweg gepeilt mit zugekniffenem Auge, wieder hinauf zum zweiten Bohren, danach erneut hinunter, den dritten Nagel angemessen und rauf und den letzten der Nägel vorgebohrt – nein! Hier ging es ja nicht um Pinselstriche, geschmeidig und ruhig – »hier war massiv was zu bohren. Zehn Millimeter dicke Löcher waren in den Ecken eines sorgsam voraus zu berechnenden Dreiecks in die Wand zu treiben!«
»Ja, du liebe Zeit – wie lange dauert sowas denn?«
Sehr gut, meine liebe Heda Mayer! »Das war vorher schwer abzuschätzen … also ich denke: Eine halbe Minute, eine ganze?« Heda Mayer hatte die Mundwinkel gekniffen, als wollte sie gleich einen kleinen Pfiff ausstoßen, Hegli schaute mich mit zusammengepetztem Auge an. Fünf, sechs Zentimeter tief mußte man hinein in die Wand, damit die 25 Zentimeter des Nagels einen Halt hätten, sich und ihre Schuhe trügen. »Die Nägel mit den Handschuhen waren da vergleichsweise unproblematisch, die Handschuhe weder so schwer noch so ausladend wie die beiden Schuhe am unteren Nagel, die ja auch aufeinandergesetzt ihren Halt finden mußten. Der untere Nagel, der mußte wirklich richtig sitzen, eher sieben als sechs Zentimeter tief in der Mauer. Bei hartem Mauerwerk, möglicherweise Beton, allemal keine Kleinigkeit mehr. – Eine, eineinhalb Minuten? – Und dann: das mußte in einem Rutsch gemacht sein, ohne lange Pausen. Kompakt. – Ein schweißtreibendes Unterfangen dabei, und der eigentliche organisatorische Kern dieser Aktion Jesus fehlt.«
»Was sagen Sie da?«
»Naja, die sechs, sieben Zentimeter, das wird zusammen schon seine vier, fünf Minuten …«
»Nein, nicht das, wie haben Sie da über diese Aktion gesagt?«, hakte Hansen nach. Auch Heda Mayers Interesse verschob sich irgendwie.
»Der organisatorische Kern …«, sagte ich.
»Nein, nein«, insistierte Pfarrer Hansen und ich begriff mit Schrecken: »Wie haben Sie das eben genannt?«
»50!«
»Was?«
»Schuhgröße 50!«, hatte in diesem Moment Hegli gemurmelt. Alle, auch Hansen, und ich selbst als Erster, schauten zu einem Zettelchen, das Hegli auseinandergefaltet hatte und von dem er etwas ablas: »Ich meine die Schuhe da oben. Bekommt man doch nicht überall, oder? Auch die Handschuhe waren ungewöhnlich groß …« Ja, Handschuhe, die man beim Eisengießen vielleicht oder beim Hantieren am Füllstutzen eines Tankwagens benützte, wie Hegli oben auf der Leiter an der Kirchenwand inspiziert hatte, »alles ziemliche Kawenzmänner«, hatte er seine trockene Art von Bestandsaufnahme fortgesetzt, als hätten wir anderen nicht auch begriffen, daß dies alles eine Nummer zu groß war.
»Genau. Sehr gut!«, hatte ich mich zu einem Lob Heglis hinreißen lassen und es, man ist ja manchmal unglaublich verbohrt!, auch noch vorgeführt, »eine lebensgroße Anordnung von Hand- und Fußgelenksnägeln, also die knappen zwei Meter Spannweite unserer Arme, und ebenso die zwei Meter Höhe, die schon Leonardo da Vinci vermaßt hat, Sie wissen schon – das konnte hier nicht reichen, da haben Sie«, ich nickte Hegli viel zu gönnerhaft zu, »völlig recht!«
Die XXL-Handschuhe und Übergrößen der Schuhe hatten die gesamte Jesusfigur vergrößern lassen, das Kreuz war auf das Eineinhalbfache gebracht, wurde insofern an der Kirchenwand auch weiter oben installierbar, »stellen Sie sich einmal vor«, hatte ich mich verstiegen, »Michelangelo hätte seine Zeigefinger oben in der Sixtinischen Kapelle nur lebensgroß gemalt – die würden wir doch von unten her gar nicht erkennen können!«
Der Vergleich mit Rom zog. So mußte das auch bei uns sein, damit das alles von der Straße aus und von gegenüber und sogar noch über die parkenden Autos vor unserem Gotteshaus hinweg zu sehen war. Es mußte alles über sich selbst hinaus projiziert sein.
»Allein dieser Handschuh«, hatte Hegli nun seine detektivische Betrachtung noch einmal aufnehmen wollen, die er schon auf die Herkunft der beiden ausgetretenen Schuhe angewendet hatte: »Der Handschuh da oben, mit diesem Aufdruck, warten Sie, hab’ ich mir auch aufgeschrieben: Torr …« Der Mann brachte alle am Tisch wieder völlig raus: »Torr … ell … Torr … Torr–el–li, oder so – das müßte sich doch«, und bog endgültig ab von unserer gemeinsamen Spur, »herausfinden lassen, wer sowas benutzt!« Ich holte Luft. Kam aber nicht dazwischen: »Was sagen Sie dazu, Herr Baumann, wer arbeitet denn mit sowas? Sind doch benutzt, die Riesendinger! Aber wo, frage ich mich, kauft man sowas?« Thomas Baumann hatte kurz den Kopf gewiegt, dann ungläubig die Schultern gezogen. Auch sonst hatte man sich in unserem Kreis weder auf den kommissarischen Eifer, mit dem sich Hegli ins Zeug legen wollte, noch auf meine Projektionen einlassen wollen.
»Wir müssen«, fuhr in dieser heiklen Situation Dr. Berndacher apodiktisch in meine Erinnerung, »hier endlich einen Beschluß fassen!« Wir hatten fast vergessen, daß unser Autoritätsältester auch heute unter uns saß. Hatte also doch nicht vor sich hin gedöst, wie sonst meist. Seine, wenn sie offen waren, flinken Äuglein sprangen von Hansen zu Baumann zu mir und ausnahmsweise auch noch zur Peters – die mit dieser überraschenden Einbeziehung einer Frau aber nichts anzufangen wußte und unsere Blicke an Heda Mayer weiterlenkte. Die zuckte die Schultern. So hatte Kersting Gelegenheit, sich unverdächtig zu machen mit einem stereotypen »Besser wär’ das!«. Allein, welcher Beschluß besser sein sollte, das wußte er nun ganz sicher nicht zu sagen. Wir steckten fest wie seit einem Monat.
»Ich bin entschieden dafür, daß wir diese ganze Angelegenheit heute ein für alle Mal ad acta legen. Wir betreiben hier seit Wochen um diese Entscheidung einen Aufwand, wie er sonst …«, Dr. Berndacher mußte Luft holen und den rechten Vergleich finden, er hatte ihn schon: »bei einer EU-Sitzung oder …«, der Alte griff gerne hoch bei seinen Vergleichen: »… oder einem Welt-Wirtschafts-Gipfel bemüht wird.« Und er wußte stets, seine Konklusionen aus derlei Fallhöhe um so wuchtiger zu machen: »Dabei geht es schlicht darum, Hegli«, konkretisierte er sogleich befehlsgewohnt, »dieses –«, er mußte nicht lange nachdenken, sondern staute lediglich seinen Atem für eine geballte Verachtung an: »Zeug von der Wand zu holen!«
Hegli spannte sich in den Oberschenkeln von seinem Stuhl hoch, während Mersun arbeitslos drein blickte. Wo aber sonst des Alten Meinung so sicher wie das »Amen« in der Kirche, ‘Tschuldigung!, als Vorstandsbeschluß angesehen werden darf, wog Pastor Hansen mit dem Kopf ab, ob nicht doch ein Kunstwerk als Thema einer richtungweisenden Predigt nützlich sein könnte. Ihm gegenüber ließ die Peters ihren Kopf mitsamt Hals und der gesamten Schulterpartie pro Berndacher auf und ab nicken. »Jawow!« assistierte Baumann, das letzte Drittel seines Brötchens in der Hand, schluckte: »Bin ganf Ihrer – Entschuldig …«, ich war irritiert, er schluckte runter: »Entschuldigung! … ganz Ihrer Meinung!« Heda Mayer sah mich an. Dann sahen wir wie verabredet zu Harpe Bostel, der sich an den Pfarrer hielt, dann jedoch an die Betrachtung seiner Fingernägel. Kersting lauschte und ahnte, daß er bei der Partei von Dr. Berndacher die Mehrheit finden dürfte, der insofern auch gerade neu ansetzen wollte, wie hier nun vorzugehen wäre – als Hegli zum Pfarrer sah und eine kleine Überraschung in unserem Vorstand geschah:
»Man hatte den Eindruck, er ist nicht mehr Zuhause. Wissen Sie?«
Heda Mayer forschte in seinem Gesicht, Hegli: »Die leeren Handschuhe und Schuhe. Als wäre Er da herausgeschlüpft.«
Hansen schien dazu eine Frage zu haben, aber Hegli: »Das ist schon gut gemacht. Nur …« Er suchte eine Antwort in dem Blick zu seinem Pfarrer: »Warum bei uns? Warum ist das bei uns angeschlagen, diese …« Die Peters seufzend: »Sagen Sie jetzt bloß nicht Installation, Hegli, ich kann das allmählich nicht mehr hören!« Aber Hegli in seiner Handwerkerart ließ sich so einfach nicht ablenken von praktischen Fragen – da mußte schon ein stimmgewaltiger Baumann kommen:
»Ich frage mich ja sowieso, Hegli, ob wir denn nicht irgendwo eine andere große Leiter haben, die lang genug ist, um das runterzuholen?«
»Sonst halt die Feuerwehr …«, wußte Kersting, bekam aber schon selbst Zweifel über solch einen Einsatz.
Da wurde mir klar …
(zwei Auszüge aus der Erzählung »Jesus fehlt«)